Im letzten Jahr zog es mich wieder einmal nach Kroatien. Das Land hat einfach so viel zu bieten und die Leute dort sind so herzlich, dass ich immer wieder gerne dorthin reise. Diesmal sollte es etwas Besonders sein und entschied ich mich für eine Muffeljagd an der kroatischen Adria rund um die Kvarner Bucht.
Von Novi Vinodolski aus fahren meine Freundin und ich ins Landesinnere, wo wir auch schon bald unser Ziel erreichen sollten. Kaum mehr als ein paar Häuser zählt der kleine Ort Ledenice, der in der Nähe von Breze liegt, einem Ort, der es durch die Dreharbeiten für die Winnetou-Verfilmungen zu einer kleinen Berühmtheit geschafft hat.
Wir begrüßen unsere kroatischen Jagdführer Neven, Miroslav und Valentin, die uns abwechselnd die nächsten Tage begleiten werden, und Neven lädt uns zum Abendessen zu sich nach Hause ein. Noch müde von der Reise, wird der Abend nicht allzu lang, denn der nächste Tag beginnt bereits um 5 Uhr morgens.
Es ist noch stockdunkel draußen, als wir abgeholt werden und unser Gepäck in einem Pick-up verstauen. Das Jagdgebiet erstreckt sich von Novi Vinodolski entlang der nach Süden führenden Küstenstraße vom Meer bis hoch in die Hochebenen des Dinarischen Gebirges. Die Berge an der kroatischen Adria sind ein typisches Karstgebirge. Auf dem verwitterten Kalkstein findet man neben ausgedehnten Wäldern mit Buchen- und Kiefernbeständen viel karges, freies Felsgestein, das im Laufe der Zeit durch die Witterung ausgewaschen wurde und von unzähligen Rinnen und Karren durchzogen ist. Von der Hochebene aus erstrecken sich zur Küste hin tiefe, lang gezogene Täler – ein ideales Habitat für das Muffelwild, das hier neben Rot-, Reh- und Schwarzwild und dem Braunbären zu den Hauptwildarten zählt.
Erstes Ziel an diesem frühen Morgen ist ein Parkplatz an der Küstenstraße an der südlichen Reviergrenze. Hier wollen wir uns erst einmal orientieren und vielleicht schon nach erstem Wild schauen. Es dämmert bereits, doch noch ist alles grau in grau. Vor uns liegt eines dieser tiefen Täler, die sich quer zur Küstenlinie von der Hochebene hinunter bis zum Meer erstrecken. Sträucher und Bäume bedecken die felsige Landschaft, und mir fällt es daher nicht leicht, Wild zu entdecken. Doch auch hier hat längst die moderne Technik Einzug gehalten, und so können wir mit dem Leica Calonox View weiter oben am Hang auf ca. 500 m Wild ausmachen. Jetzt, wo wir wissen, wo das Wild steht, können wir es auch mit dem Fernglas bereits erkennen. Drei Stück Kahlwild und ein Hirsch ziehen den Berg hinauf weiter in Richtung des nächsten Tals. Jetzt können wir auch auf der linken Seite des vor uns liegenden Tals Wild entdecken. Diesmal ist es Muffelwild. 10, 20, nein, fast 30 Stück kann ich zählen. Sie ziehen zügig den Hang weiter hoch, immer wieder verdeckt durch Sträucher und Büsche.
Valentin greift sich seinen Rucksack vom Pick-up und schnallt ihn sich auf den Rücken. Es scheint loszugehen, und wir beeilen uns, es ihm gleichzutun. Von der Küstenstraße aus führen Pirschpfade entlang der Täler tief ins Landesinnere hinein. Sie sind gut zu erkennen, und die Steigung ist moderat. Einen solchen wählen wir, und schon nach ein paar Metern verschlingt uns der dichte Bewuchs. Valentin deutet uns an, sehr leise zu sein. Muffelwild äugt nicht nur hervorragend, sondern es vernimmt auch sehr gut. Vorsichtig gehen wir weiter, in regelmäßigen Abständen bleibt Valentin stehen und lauscht, um sich dann leise wieder in Bewegung zu setzen. Unser kleiner Trupp kommt nur sehr langsam voran. Als wir erneut stehen bleiben, um zu lauschen, höre ich es. Weiter vorn klackern Steine gegeneinander! Muffelwild, das leider abspringt. Das haben wir wohl vergrämt. Aber so wie das Muffelwild uns hören kann, können wir es eben auch hören. Wir sind bereits seit einer Stunde unterwegs, als Valentin weiter hinten auf eine Salzlecke und eine große Wasserstelle zeigt. Auch hier können wir das verräterische Klackern der Steine, wenn Wild darüberzieht, hören, doch sehen können wir nichts. Dafür sind die Sträucher zu hoch, sie verbergen die Sicht auf die umliegenden Berghänge. Dass hier viel Wild unterwegs ist, kann ich aber nicht nur hören, sondern auch anhand der Trittsiegel rund um die Wasserstelle erkennen.
Wir pirschen noch weiter ins Tal hinein, entdecken links von uns eine große Höhle, die Valentin nur kurz mit dem Wort „Bär“ kommentiert. Ein wenig mulmig äugen wir in die Richtung und gehen dann weiter. Die Bärenjagd ist hier in dieser Gegend gerade bei den Kroaten sehr beliebt und wird mit großer Passion durchgeführt, wie die zahlreichen Jagdgeschichten des gestrigen Abends belegen.
Der Morgen vergeht, und langsam stellt sich Hunger ein. Wir sind ohne Frühstück aufgebrochen, und uns knurrt der Magen. Als ob Valentin das gehört hätte, bleibt er abrupt stehen, glast die vor ihm liegende Fläche ab und macht sich wieder auf den Rückweg Richtung Küstenstraße. Jetzt kommen wir schneller voran, es geht bergab, und wir müssen nicht mehr so vorsichtig laufen.
Kurz vor der Küstenstraße entdecken wir links im Hang endlich wieder Muffelwild. Ein passender Muffelwidder ist dabei, und das Wild hat uns noch nicht wahrgenommen. Wir beeilen uns, näher heranzukommen. Was allerdings vom Pirschpfad aus einfach aussah, entpuppt sich nun als echte Herausforderung, denn das karstige Gestein ist messerscharf und teilweise locker. Ein falscher Tritt, verbunden mit einem Sturz, wäre sicherlich sehr schmerzhaft und folgenreich. So müssen wir extrem vorsichtig sein, um in eine geeignete Schussposition zu kommen. Die Gelegenheit verstreicht. Das Rudel zieht weiter den Hang hinauf und somit für uns außer Sicht. Wir nehmen es gelassen…
Auch die nächsten Tage gehen mit viel Anblick, aber ohne Beute, und langsam wurden unsere kroatischen Jagdführer nervös. Schon zwei Jagdtage, und es liegt noch kein Muffelwidder! Das hatte es noch nie gegeben. Doch so ist eben Jagd, und erzwingen lässt sich Jagdglück schon gar nicht. Auch der Morgen am letzten Jagdtag verging, ohne dass wir Beute machen konnten. Entweder war das Wild zu weit entfernt, der Widder stand nicht frei, oder wir waren eben nicht rechtzeitig darauf vorbereitet.
Am letzten Abend wollen wir unsere Chancen verdoppeln, und so teilen wir uns auf. Neven und ich wollen es oben auf der Hochebene versuchen, Tanja mit Valentin unten im Tal. Als Neven und ich an der Stelle stehen, an der wir am Tag zuvor die Bären beobachten konnten, entdecken wir auf der anderen Seite vom Tal Muffelwild. Ein starker Muffelwidder ist dabei, und wir besprechen kurz die Situation. Wir könnten es schaffen, dort noch rechtzeitig hinzukommen, müssten uns dann aber ziemlich beeilen. So packen wir schnell alle Sachen zusammen, und es beginnt ein Wettlauf mit der Zeit, denn ist erst einmal die Sonne hinter den Bergen verschwunden, wird es rasch dunkel. Wir schaffen es tatsächlich in einer halben Stunde. Zwar völlig außer Atem, aber doch rechtzeitig, bevor die Sonne untergeht. Neven pirscht sich vor, er will erst einmal schauen, wo sich das Rudel aufhält, während ich erst einmal tief Luft holen muss. Langsam beruhigt sich mein Herzschlag, und ich schaue mich um. Neven liegt vielleicht 30 m vor mir am Rand der Hochebene und glast die unter ihm liegende Fläche ab. Auf dieser Seite des Tals ist der Abhang sehr viel steiler, und während die Situation aus der Ferne machbar aussah, wird mir jetzt erst bewusst, wo ich mich hier befinde.
Neven winkt mir zu, dass ich zu ihm kommen soll. Er deutet mir an, geduckt zu bleiben, sodass ich auf allen vieren zu ihm krabbele. Mit Rucksack (als Unterlage), Fernglas und Waffe kein leichtes Unterfangen auf dem felsigen Untergrund, der Gott sei Dank hier nicht ganz so scharfkantig ist. Ich schaffe es, neben ihn zu gelangen, und robbe die letzten Zentimeter bis zum Abgrund. Vorsichtig luge ich über den Rand und ziehe mich sofort zurück. Am Rand des Plateaus geht es 100 m senkrecht nach unten – bis zu einem flacheren Geröllfeld, auf dem das Muffelwild steht. „Shoot!“, höre ich es neben mir, und schon greift Neven meine Waffe und den Rucksack und platziert ihn auf dem Rand.
Mein Herz schlägt mir bis zum Hals, aber nicht, weil mich das Jagdfieber packt, sondern weil ich schlichtweg Angst habe – Angst, abzurutschen und in die Tiefe zu stürzen. Ich linse noch einmal über den Rand, kann aber das Wild gar nicht entdecken, ich müsste noch viel weiter an den Rand heran, um es sehen zu können. „Niemals“, denke ich bei mir und winke ab. Nicht mit mir.
Ich hatte meine Chance gehabt, und das nicht nur heute, sondern auch die Tage zuvor. Ich habe sie nicht genutzt – aus verschiedenen Gründen: Mal war ich nicht so weit, mal stand das Wild zu weit weg, mal war kein Kugelfang, und mal war ich zu ängstlich. Das alles sind Gründe, warum ich nicht schießen konnte. Am Revier oder an den Jagdführern lag es sicherlich nicht, sie haben alles gegeben, und doch hat es nicht geklappt.
Wir lassen den Kopf nicht hängen und genießen den letzten Abend. Kurz bevor wir uns verabschieden und ins Bett gehen, fragt mich Miroslav noch, wann denn morgen unser Flug gehe. „Irgendwann am Nachmittag“, antworte ich. Miroslav grinst: „Na dann können wir es ja morgen früh noch einmal versuchen …“
Diesmal probieren wir es ganz woanders. Eine große, felsige Landzunge, die weit ins Meer hineinreicht, ist unser Ziel. Wir parken das Auto am Rand der Küstenstraße und gehen zu Fuß weiter. Als wir unten am Meer ankommen, entdecken wir Muffelwild, das am Hang entlang Richtung Meer zieht. Immer wieder taucht das Rudel zwischen den Sträuchern und Büschen auf, um sofort wieder darin zu verschwinden. Die Gegend hier ist so felsig und steinig, dass es quasi unmöglich ist, sich dem Wild zu nähern. Eine Chance haben wir noch, wir müssen genau den Moment abpassen, in dem das Wild über die Kuppe zieht. Und so kehren wir um und schlagen einen alten Weg ein, der am Ende der Landzunge zu einem steinigen Strand führt. Nach ein paar Hundert Metern machen wir uns bereit. Links von uns taucht ein erster Widder auf, verhofft kurz und verschwindet wieder. Zwei weitere Widder zeigen sich und sind im nächsten Moment auch schon wieder weg. Es ist wie verhext, doch wir müssen darauf hoffen, dass das Wild über den steinigen Weg zieht, der vor uns liegt. Dort ist die einzige Möglichkeit, ein freies Schussfeld zu bekommen. Ich mache mich bereit, blicke gar nicht mehr nach links, wo das Wild entlangzieht, sondern schaue nur noch geradeaus. Und auf einmal, wie aus dem Nichts, steht er da und äugt in unsere Richtung. Er steht zwar spitz von vorn, doch ich lasse fliegen. Eine weitere Chance wird sich mir nicht mehr bieten. Das Stück zeichnet, springt ab und bleibt keine 10 m neben dem Weg liegen. Das nenne ich Waidmannsheil wahrlich in letzter Minute!