Prolog

April 2020. In zwölf Stunden geht der Flug. Pass in der Tasche, Ausrüstung abgestimmt, Fitness vorhanden, Schüsse auf nahe und weite Distanz geübt, alles abgehakt. Die Termine sind bestätigt, das Netzwerk läuft. Monate der Vorbereitung liegen hinter mir, jetzt soll alles Wirklichkeit werden. Die Tasche ist gepackt, ein Monat voller Abenteuer in Neuseeland wartet. Es kann losgehen! Vollbremsung! Der Premierminister hält eine Pressekonferenz ab, und Dänemark fährt alles runter – die Welt fährt alles runter! Der Abenteuermonat zerfällt zu einem Häuflein Nichts. Die Tasche bleibt erst mal für längere Zeit stehen – gepackt, bereit, falls dieser surreale Zustand namens „Corona“ plötzlich enden sollte. Aber wie wir alle wissen: Der Moment lässt auf sich warten. Ich entpacke die Tasche und verstaue den Inhalt wieder, gemeinsam mit meinen Träumen und Erwartungen.

Schneller Vorlauf – April 2023

Die Tasche steht wieder bereit. Alles fühlt sich an wie vor drei Jahren: Die Liste ist bis zum letzten Detail abgehakt. Doch da ist dieser nagende Zweifel im Hinterkopf, ob das Abenteuer diesmal wirklich beginnt. Wird die Erwartung nochmals zur Enttäuschung und dann wieder Erwartung? Doch diesmal hebt der Flieger ab, und 33 Stunden später setzt er zur Landung auf Neuseelands Südinsel an. Kaum hat das Flugzeug die Küstenlinie passiert, ziehen freundlich aussehende Grasberge unter uns hinweg. Links grüßt der Mount Cook mit seinem schneebedeckten Gipfel, gleich setzen wir in Queenstown auf. Nun beginnt das Abenteuer wirklich. Franz und ich haben einiges vor: von Hirsch bis Wallaby, von Süd nach Nord. Los geht’s!

Südwärts: Regenwald. Der Pfeil fliegt.

Die Blätter unter meinen Füßen rascheln, aber wenn ich mich wie ein Tai-Chi-Künstler bewege, komme ich lautlos voran. Langsamer als der Minutenzeiger einer Uhr schiebe ich mich voran, in einer Stunde habe ich kaum einige Hundert Meter zurückgelegt. Mannshohe Farne, südliche Birken, Lianen und andere Pflanzen, die ich noch nie gesehen habe, formen einen Irrgarten, aber glücklicherweise funktioniert das GPS auf meiner Uhr. Der Bogen liegt in der Hand, ich lausche. Da: ein Röhren in einem Habitat, das in keiner Weise dem entspricht, was Rotwild bevorzugt. Aber hier, in der südlichen Hemisphäre, scheint dies das optimale Biotop zu sein. Blätter knistern, Äste knacken, ich halte augenblicklich still. Mein Herz setzt einen Schlag lang aus. Ich halte den Atem an und sinke langsam auf die Knie. Das Geräusch kommt rasch näher. Ich erkenne jetzt einen dunklen Schatten, der direkt auf mich zuhält. Ich fasse den Bogen fester, lege den Pfeil auf die Sehne …

Franz und ich sind vor gerade mal zwei Stunden aus dem Auto gestiegen. Wir hatten die ersten Tage darauf verwandt, das neuseeländische Rotwild zu überlisten. Der Zeitpunkt hätte nicht besser sein können: Wir waren direkt zu Beginn der Hirschbrunft auf der Südinsel angekommen. Bis jetzt hatten wir uns auf die Bogenjagd konzentriert, und mehrere Male hätte
es beinahe geklappt – aber eben nur beinahe. Der Hirschruf war im Dauereinsatz, Franz hatte den Code des Wildes dechiffriert und einige längere „Gespräche“ mit brunftigen Hirschen geführt. Nach fünf Tagen der „Beinahe-Chancen“ hatten wir beschlossen, ab jetzt mit der Büchse zu jagen.

Unser neuer Freund (ein Schaffarmer, den wir getroffen hatten) hatte uns großzügig eine Hütte als Wohnung überlassen und uns zudem erlaubt, sein Land zu betreten, sodass wir einige dahinterliegende öffentliche Reviere erreichen konnten, die noch unbejagt waren. Eben dieser Farmer hatte uns erzählt, dass er vor einigen Tagen in just dem Wald, den ich gerade betrat, ein wahres Orgelkonzert gehört hätte. Franz und ich waren sofort gemeinsam losgezogen, kamen aber rasch überein, dass zwei Menschen einfach viel zu viel Lärm machten. So war er mit seiner Büchse zum Waldrand zurückgekehrt, ich setzte meine Pirsch mit dem Bogen fort. Möglicherweise würde ich so Rotwild Franz’ Stand am Waldrand zudrücken.

Der schwarze Schatten im Wald hat Gestalt angenommen. Es ist kein Hirsch, sondern ein wildes Schwein, das im Zwielicht des Regenwaldes riesengroß scheint. Es muss ein Keiler sein, der da einen Wechsel hält, der ihn jeden Moment 15 Schritt vor mir passieren lassen muss. Als er kurz hinter einen Farnwedel taucht, spanne ich den Bogen, finde automatisch mit dem Absehen sein Blatt, schwinge im Troll leicht vor und lasse los. Der Pfeil fliegt. Die kleine Leuchtdiode in der Nocke glimmt auf, zieht eine Leuchtspur auf das Wild zu. Ich höre, wie der Pfeil am Blatt aufschlägt.

Die Sau bricht samt Pfeil in der Schulter in die Flucht, immer weiter denselben Wechsel entlang. Dann hält sie mit einem Mal inne, dreht sich langsam um und schaut mich direkt an. Was soll ein Mensch da tun, Aug in Aug mit einem Wildschwein – rasch einen weiteren Pfeil auf die Sehne legen? Oder still halten? Ich wähle Letzteres. Stehe gebückt, bewege kein Augenlid, hoffe, dass Tarnkleidung und schwaches Licht mich im Wald verschwinden lassen.

Die Sau bläst, wendet sich um und verschwindet krachend im Unterholz. Meine Hirschjagd hat sich zur Saujagd verwandelt. Da, irgendwo im Dunkel des Regenwaldes, steht ein kranker Keiler mit meinem Pfeil in der Schulter. Mein Puls beruhigt sich langsam wieder. Ich gehe ein paar Schritte umher, hoffe, mit meinem Handy Signal zu bekommen – unter dem dichten Blätterdach ist das Netz reichlich schwach. Endlich erreiche ich Franz. Er kommt mit der Büchse, aber es dauert lange, bis er mich findet. Kaum hat er den Wald betreten, war die Verbindung abgerissen. Nur das schwache Licht meiner Stirnlampe zwischen den Stämmen und dem Lianengewirr hat ihn zu mir geführt.

Wir machen uns an die Nachsuche und finden den Pfeil an der Stelle, an der der Keiler haltgemacht hatte. Auf allen drei Federn am Schaft ist Schweiß. Mit schussbereiter Büchse nehmen wir die Fährte wieder auf. Die Suche geht über eine lange Strecke, bis wir den Keiler endlich finden. Ein seltsam aussehendes Mischwesen liegt da vor uns: das Gewaff wie bei einem Wildschwein in Europa, aber Haupt und Körper sehen gänzlich anders aus. Am Haupt finden sich einige Borsten, aber die Figur gleicht eher den rosa Hausschweinen, wie wir sie kennen. Der typische Keilerbuckel fehlt.

Den Keiler aus dem Wald zu liefern ist harte Arbeit. Doch glücklicherweise kommt uns der Farmer zu Hilfe und bringt das Schwein mit seinem ATV zur Farm. Es wiegt fast 100 kg. „Ein echtes Captain-Cook-Schwein“, lacht er. „Captain Cook?“, frage ich verwundert und erfahre, dass mein Keiler ein direkter Nachkomme der zehn Schweine ist, die Captain Cook bei seinem ersten Besuch der neuseeländischen Südinsel an Bord der „Endeavour“ mit sich führte und 1769 hier aussetzte.

Nach West und Nord. Und auf und ab.

Hoch oben am Berg haben wir an einer Kante unseren Stand eingenommen. Weit unter uns ist eine kleine Erhebung am Hang, ein kleiner Hügel, zugewuchert von hohem Gras, Büschen und kleinen Bäumen. Franz hat ihn zuerst entdeckt: Ein starker Tahr hat sich dort niedergetan und ruht in der Nachmittagssonne. Franz war schon mehrmals in Neuseeland, ich dagegen noch nie, und so habe ich dieses Wild auch noch nie in der Wirklichkeit beobachten können. Nur in meinem Kopf hatte ich bisher Bilder davon, aus all den Jagdgeschichten, die ich über diese großen Mähnenziegen, die eigentlich aus dem Himalaja stammen, gehört habe.

Der Tahr schläft offensichtlich. Ich steige etwas zu ihm hinunter, Franz bleibt oben am Kamm, hält sein Fernglas und womöglich auch die Kamera auf das Wild gerichtet. Die Waffe sitzt in der Schulter, der Vorderschaft steht fest auf dem Zweibein. Mein Daumen liegt auf der Sicherung. Sobald der Tahr aufsteht, geht der Schieber nach vorn. Doch er tut sich sofort wieder nieder, bevor ich auch nur den Schimmer einer Chance habe. Ich sichere die Waffe wieder. Entfernung um die 250 Meter. Da nimmt er sich wieder auf, steht breit, tut im Schuss einige Gänge nach vorn, dann fällt er in die Flucht und verschwindet im Dickicht. Ich schaue zu Franz hinauf, er reckt den Daumen nach oben. Ja! Das sieht gut aus.

Ein Helikopter hatte uns früh am Morgen auf dem Berg abgesetzt, nach nicht einmal zehn Minuten Flug. Den Tag davor hatten wir im Auto verbracht, vom südlichsten Punkt der Südinsel waren wir zuerst nach Westen und dann nach Norden die Küste entlanggefahren, durch endlose, fremde, wilde, schöne Natur, über Bergpässe und Flüsse und durch weite, offene Graslandschaften.

Der Pilot hatte uns an einem kleinen Bergsee abgesetzt. Wir hatten uns diesen Platz nach langem Kartenstudium und mehreren Gesprächen mit Einheimischen ausgesucht, ohne jedoch zu wissen, ob das Wild, auf das wir aus waren, hier auch seine Fährten zieht, nämlich Gams und Tahr. Glücklicherweise war der Pilot der Ansicht, dass wir nicht völlig falsch lägen. So waren wir mit großen Erwartungen gelandet und hatten Zelt, Schlafsäcke, Waffen und Vorräte für fünf Tage aus dem Hubschrauber geholt.

In Neuseeland kann der Großteil des staatseigenen Landes sowohl von Einheimischen als auch von Jägern aus dem Ausland legal bejagt werden. Es gibt aber einige Formalitäten, die zu beachten sind: Die neuseeländische Jagdprüfung hatte ich schon zu Hause online erfolgreich abgelegt, und die Lizenzen für die meisten öffentlichen Reviere hatten wir in der Tasche. Die Regierung von Neuseeland stellt dazu eine eigene App bereit, die die Grenzen der einzelnen Jagdblöcke festhält. Doch das Land ist weit, wild und hart, und so ist die Jagd, wiewohl frei und in wildreichen Revieren, keine leichte Angelegenheit. Wo fängt man an? Wo steht das Wild? Wo ist es sicher?

Zum Glück gibt es hier viele gute und erfahrene Jagdführer, deren Hilfe man sich versichern sollte, wenn man nicht den Mut oder die Zeit hat, auf eigene Faust bergauf und bergab zu jagen. Jahr für Jahr kommen einige Jäger nicht mehr nach Hause zurück. Es gibt hier viele Berge, von denen man abstürzen, und viele reißende Flüsse, in die man fallen kann.

Ich klettere wieder zu Franz hinauf. Er ist sich sicher, dass die Kugel gut sitzt. Gemeinsam steigen wir ab. Die Schussentfernung betrug zwar nur 250 Meter, doch wir brauchen eine gute Stunde, bis wir am Anschuss ankommen – oder an dem, was wir dafür halten. Das Gelände sieht hier völlig anders aus als von oben. Überall tun sich kleine Spalten auf oder ziehen sich Felsbänder durch den Hang. Wir halten uns an Gras und Büschen fest, um nicht abzustürzen. Kein Schweiß, kein Tahr, nichts. Franz steigt wieder zu seinem Beobachtungsposten hinauf, um mich von dort aus einzuweisen. Doch als er oben ankommt, kann er mich nicht mehr sehen – mein Tarnzeug wirkt also. Ich suche auf eigene Faust weiter bergauf und bergab, gebe aber irgendwann auf. In einer Stunde wird es dunkel sein und damit viel zu gefährlich, allein hier herumzuturnen.

Später, im Zelt am kleinen Bergsee, gehen wir die Kamerabilder wieder durch. Das kurze Video, das Franz aufgenommen hat, zeigt den Treffer deutlich, die Kugel sitzt gut. Der Tahr MUSS also liegen, irgendwo da oben. Am nächsten Morgen nehmen wir die Nachsuche wieder auf, beenden sie aber ohne Erfolg nach sechs Stunden. Zu wissen, dass der Tahr nun irgendwo im Gestrüpp verludert, ist hart. Ich hatte mich darauf gefreut, sein majestätisches Haupt aus dem Gras zu heben, meine Finger über seine prächtigen Hörner gleiten zu lassen, immer und immer wieder. Ihn dann auf meine Schultern zu laden und mich Meter für Meter nach oben zu kämpfen, keuchend unter der Last der Trophäe und des Wildbrets. Das wird nun nicht geschehen.

Am nächsten Tag ist Franz an der Reihe. Wir sind schon eine gute Strecke vom Camp weg, als wir einen Gams sehen. Er zieht genau über die scharfen Felsen, an denen das Plateau, auf dem wir stehen, endet. Dahinter bricht der Berg steil ins Tal weg. Franz schießt, der Gams fällt. Das Erlebnis von gestern lässt mich an Ort und Stelle bleiben, sodass ich die Stelle, wo wir das Wild zuletzt gesehen haben, ständig im Auge habe. Franz zieht eine orangefarbene Hülle über seinen Rucksack, damit ich ihn im grünen Gras sehen kann. Das Tarnzeug wird auch heute wirken, und ich bin seit gestern um eine Erfahrung klüger geworden. Zwei Arme über dem Kopf – Waidmannsheil! Ich steige vorsichtig zu Franz und seinem Gams ab. Es ist meine erste direkte Begegnung mit diesem exotisch-schönen Wild mit seinen schwarz-weißen Zügeln und den eleganten dunklen Krucken, die in sanftem Bogen zu scharfen Spitzen werden. Es ist heiß am Berg, und die Fliegen umschwärmen uns. Gemeinsam zerwirken wir den Gams. Franz nimmt das Haupt, ich trage das Wildbret bergauf und heimwärts zu unserem Zelt am kleinen See, der wie ein blauer Spiegel in der Bergwelt liegt.

Beinahe einen Monat haben wir in Neuseeland verbracht, und alles, was wir unternommen haben, hatte mit Jagd zu tun: Wir waren auf der Jagd, unterwegs zur Jagd oder auf dem Weg von einer Jagd zur nächsten. Es war eine intensive Zeit, und ich glaube, ich habe fürs Erste nun genug gejagt. Wir haben viele neue, aufregende und einzigartige Jagderfahrungen gemacht und viele nur deswegen nicht, weil uns die Zeit dafür gefehlt hat.

Dann kam ich nach Hause und wollte wieder auf die Jagd gehen …

Mehr Bilder von dieser Reise und von anderen Jagdabenteuern finden Sie unter
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