Der Frühsommer verging wie im Flug und gegen Ende Juli folgten ein paar brütend heiße, gewitterschwüle und feuchtwarme Tage. Ein vielversprechender Anfang für die nahende Blattzeit, ich freute mich schon sehr darauf. Für mich ist die Blattjagd immer ein ganz besonderes Highlight im Jagdjahr. Gelingt es mir, beim Blatten einen reifen älteren Bock, den ich zuvor noch nie gesehen habe, vor die Büchse zu locken, ist es immer wieder ein ganz besonderes Erlebnis.

Ich hatte mir ein paar Tage Urlaub genommen, sodass ich es langsam angehen lassen konnten, doch der Erfolg wollte sich nicht so recht einstellen. Die Böcke sprangen anfangs nur zögerlich aufs Blatten – vielleicht war es doch noch zu früh?

In den Jahren zuvor hatte ich an einer bestimmten Stelle unten im Tal an einem kleinen Bachlauf immer mal wieder einen Bock gesehen, der mir interessant erschien. Anhand seines starken Körpers und der sonstigen Erscheinung schätzte ich ihn jetzt alt genug, doch so genau konnte ich das bis dato noch nicht sagen. An dieser Stelle haben wir noch keinen Hochsitz, doch scheint sie mittlerweile fürs Rehwild immer attraktiver zu werden. Eine kleine Straße, die die beiden benachbarten Ortschaften miteinander verbindet, führt unmittelbar an dieser Wiese vorbei. Im nächsten Jahr werden wir hier sicherlich einen Hochsitz aufstellen, solange muss ich mich anderweitig behelfen. Parallel zur Straße verläuft ein Weißdornstreifen, und dahinter wächst ein Meer von Brennnesseln. Hier wollte ich etwas Deckung suchen, meinen Schießstock aufstellen und warten, bis sich der Gesuchte blicken lassen würde.

Am späten Nachmittag bezog ich meinen Platz. Morgens schon hatte ich beim Vorbeifahren gesehen, wie der Bock eine Ricke über die Wiese trieb, doch da war ich auf dem Weg zum Bäcker, um Brötchen für das Frühstück zu besorgen. Ich hoffte daher auf den Abendansitz, und so machte ich es mir bequem – wenn man es dann bequem nennen kann –, stehend und inmitten von mannshohen Brennnesseln. Die Zeit verging, der Bock ließ sich nicht blicken. Ich versuchte mein Bestes und blattete. Und siehe da, weit hinten in der Feldflur tauchte unvermittelt ein Rehbock im fahlgelben Weizenfeld auf. Er war bestimmt noch 400 Meter entfernt, doch bereits jetzt konnte ich sehen, dass es leider nicht der Gesuchte war. Dennoch blattete ich weiter, und wie an einer Schnur gezogen kam der Bock immer näher. Ich konnte ihn jetzt genauer betrachten und entschied mich dagegen, den Bock zu erlegen. Es war ein Jüngling ganz nach meinem Geschmack, gut gebaut und gut veranlagt, und möchte man das Rehwild auch hegen und nicht nur bejagen, wäre es um ihn sicherlich viel zu schade.

Der Bock kam immer näher, bis er schließlich fast zehn Meter vor mir stand. Dann erst witterte er den Braten und stelzte davon. Mein provisorischer Stand in den Brennnesselbüschen schien seine Aufgabe zu erfüllen. Auf diese Art und Weise probierte ich es noch ein paar Tage lang, doch es schien wie verhext. Tagsüber sah ich den Bock noch das eine oder andere Mal, jedoch stets bei einer Revierfahrt mit dem Auto, beim Joggen oder beim Hundespaziergang, und immer dann, wenn ich ihm mit der Waffe nachstellen wollte, ließ er sich nicht blicken.

Am letzten Abend wollte ich es noch einmal wissen. Ich lief wieder auf der kleinen Straße Richtung Brennnesselgebüsch, als ich auf der anderen Straßenseite eine Bewegung wahrnahm. Es war der gesuchte Bock, und diesmal trieb er im Liebeswahn eine Ricke vor sich her und sprang links und rechts über die Straße, bis er schließlich in einem nahen Weizenfeld verschwand. Mich hatte er gar nicht wahrgenommen, warum auch, ich ging ja in dem Moment wie eine ganz normale Spaziergängerin die Straße entlang. Schnell überlegte ich, was ich tun sollte. Doch direkt an die Straße wollte ich mich nicht stellen, und so hoffte ich, dass ich ihn wieder zu meinem üblichen Platz würde zurücklocken können. Ich machte mich bereit, versuchte mich wieder in meinen Blattkünsten, als urplötzlich hinter mir ein Bock an den Weißdornbüschen stand. Diesen hatte ich bislang noch nie gesehen, doch das ist ja gerade das Spannende an der Blattjagd. Meint man, sein Revier und das Wild zu kennen, taucht auf einmal wie aus dem Nichts ein Unbekannter auf. Mein Herz klopfte mir bis zum Hals, ich hielt den Atem an, jetzt bloß keine hektische Bewegung! Ich müsste mich umdrehen, doch daran war nicht zu denken. Jegliche Bewegung würde mich sofort verraten. Der Wind stand ungünstig, ich wusste das, und doch hielt mich der Bock noch ein paar Sekunden aus, bevor er dann laut schreckend ins nächste Gebüsch absprang. Ich atmete langsam aus. Der Abend war wohl gelaufen …

Mittlerweile war es dämmrig geworden. Das Licht wurde immer schlechter, und ich beschloss, zum Auto zurückzukehren. Und so packte ich meine Sachen, lief wieder auf der Straße in Richtung Auto zurück, als ich weit hinten auf einer anderen Wiese „meinen“ Bock stehen sah. Hier äste er ganz ruhig und schien sich von den Strapazen zu erholen. Ich machte mich bereit, der Bock stand noch zu weit entfernt für einen Schuss, und es wurde langsam immer dunkler. Ich benutzte meinen Blatter noch ein letztes Mal, und siehe da, der Bock reagierte prompt. In großen Sprüngen kam er näher, bis er auf 70 Meter verhoffte. Ich wartete nur kurz, dann sackte er im Schuss zusammen.

Ich saß noch lange bei meinem Bock und hielt Totenwache. Ganz in Gedanken an die letzten Tage und die spannende Jagd versunken, dachte ich noch eine Weile über das Waidwerk nach. Den Bock übrigens, den ich zuvor nur ganz kurz an der Weißdornhecke gesehen hatte, haben wir bis heute nie wieder gesehen. Aber so ist sie nun mal, die Jagd!

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