Vor der Nordwestküste Schottlands liegt die Insel Jura, die für ihren Whisky und ihre Population an starken Rothirschen berühmt ist. Ein Gebiet, in dem der Jäger auch einen guten Draht zum Meer braucht. Gehen Sie doch sogleich an Bord!
Nach einigen Stunden Fahrt, bei der wir Schottland vom Osten nach Westen durchquerten, kommen wir endlich — im wahrsten Sinne des Wortes — in einem sicheren Hafen an. Am Ende der kleinen, kurvenreichen Straße, die jahrhundertealte Mauern säumen, liegt der kleine Hafen von Keills. Der Himmel hängt tief, aber hier herrscht eine faszinierende Ruhe. Als wir in das Boot steigen, das uns zur Insel Jura bringen soll, warnt uns der Kapitän: Das ist die Ruhe vor dem Sturm …
Nachdem wir ein Gläschen des lokalen Getränks getrunken haben, das angeblich gegen Angst und Seekrankheit hilft, nehmen wir in den Schalensitzen Platz und das Boot steuert auf die Fahrrinne zu, die die Insel vom Festland trennt. Plötzlich wird es dunkel, aber nicht dunkel genug, um die auf uns zukommenden Wasserwände nicht zu erkennen. Innerhalb weniger Augenblicke befinden wir uns im Schleudergang und das Schnellboot peitscht über haushohe Wellen. Nun verstehen wir, warum die Sitze mit Sicherheitsgurten ausgerüstet sind und legen sie schnell an. Während wir gegen die tobenden Elemente ankämpfen, erklärt uns der Kapitän, dass sich nur einen Steinwurf von hier entfernt der Corryvreckan befindet, ein Naturphänomen, das durch die Gezeitenströme entsteht, die sich zwischen der Nordspitze der Insel Jura und der Südspitze ihrer Nachbarinsel Scarba schieben. Ein riesiger Wasserstrudel, der von Strömungen mit einer Geschwindigkeit von bis zu 16 km/h angetrieben wird und stehende Wellen mit einer Höhe von bis zu acht Metern bildet. Damit ist der Corryvreckan der drittgrößte Mahlstrom der Welt. Kein Wunder, dass die Royal Navy das Gebiet als „Nicht schiffbar“ einstuft. Wir brechen jedoch in die entgegengesetzte Richtung auf, um uns mit Yann Legrand und seinem schottischen Freund Andy zu treffen, die in Craighouse auf uns warten. Das kleine Fischerdorf ist die einzige Siedlung auf der Insel und wir werden im Jura Hotel untergebracht, das direkt neben der Brennerei liegt, in der der berühmte Isle of Jura Pure Malt hergestellt wird. Die Insel ist nicht nur für ihren Whisky berühmt, sondern auch für ihre große Population an Rothirschen, die mit etwa 5000 Stücken die Zahl der dort lebenden Menschen bei weitem übersteigt. Sieben von ihnen teilen sich den Besitz der Insel, die eine der am dünnsten besiedelten Regionen Europas ist. Willkommen auf den Hebriden.
Während der Tag über der Insel Jura anbricht und sich der Sturm endlich legt, werden wir von zwei Brunfthirschen im Garten des Hotels geweckt. Yann hatte Recht: Hier sind wir bei den Hirschen zu Gast. Natürlich dürfen wir nicht in der Nähe des Dorfes jagen und so treffen wir uns am ersten Jagdtag mit Craig, dem Gamekeeper eines der Anwesen im Norden der Insel. Er trägt ein kariertes Hemd, eine Krawatte und natürlich schottischen Tweed von Kopf bis Fuß. Seine Hände sind gezeichnet von den Jahren, die er in Kälte, Nässe, Salzwasser und dem Schweiß des von ihm in höchstem Maße respektierten Wildes verbracht hat. Zuerst geht es an den Schießstand, damit unser Jagdführer sieht, inwieweit er uns vertrauen kann, bevor wir uns auf den Weg in die Moore (Torfmoore) seines Reviers machen. Drei Kugeln für jeden auf 100 Meter, sechs Treffer ins Schwarze, ein Grinsen, das alles sagt, und schon beginnt ein Tag, wie man ihn nur in Schottland erleben kann.
![IMG_20231013_095318 IMG_20231013_095318](https://i0.wp.com/leica-hunting-blog.com/wp-content/uploads/2024/09/IMG_20231013_095318-scaled.jpg?w=461&h=346&ssl=1)
![IMG_20231013_101655 IMG_20231013_101655](https://i0.wp.com/leica-hunting-blog.com/wp-content/uploads/2024/09/IMG_20231013_101655-scaled.jpg?w=461&h=346&ssl=1)
Auf dem Weg zu einer Anlegestelle, wo Craig uns in ein Beiboot setzt, das uns zu seinem Kahn bringt, der vor der Küste ankert, genießen wir den Anblick einer Landschaft, die von den Jura Paps überragt wird — drei Bergen mit einer Höhe von 730 Metern, die das besonders ausgeprägte Relief der Inneren Hebriden unverwechselbar machen. Es ist Anfang Oktober, die Brunft ist in vollem Gange und wir sehen das erste Rotwildrudel, während Craig von einem Loch zum anderen fährt, Gewässer, die durch enge Passagen verbunden sind und von schwindelerregenden Klippen gesäumt werden, von denen mal ein Hirsch, mal ein Seeadler stolz auf uns herabblickt. Ein atemberaubendes Schauspiel, geprägt von Schönheit und Wildheit. Schließlich verlangsamt der Kahn, der Anker wird geworfen und wir erreichen das Ende einer Bucht mit dem Kanu, das wir fest am Ufer vertäuen. Ein letzter Check des Gepäcks und wir betreten im Gänsemarsch das Herz der maritimen Highlands. Der Wind frischt auf und wird auf den Bergrücken, die wir zügig überqueren, ohrenbetäubend. Schon bald vernehmen wir Brunftgeschrei und kriechen weiter durch den aufgeweichten Torf. Die entladene Waffe wird im Futteral transportiert, um sie vor Stößen und Schmutz zu schützen. Craig lässt nicht zu, dass wir sein Arbeitsgerät transportieren, denn allein er ist für diese Aufgabe zuständig. Mehrmals versuchen wir, uns an Rotwild anzupirschen, jedoch ohne Erfolg. Die hohe Wilddichte ist zwar ein Garant für zahlreiche Anblicke, aber in der Praxis ist sie auch ein ernsthaftes Hindernis angesichts der Augenpaare, die einen von allen Seiten erspähen.
Das Ganze wird noch anspruchsvoller als erwartet. Im Laufe der Stunden nimmt die Windstärke weiter zu. Starke Sturmböen zwingen uns, in schützende, tiefe Täler auszuweichen, um nicht umgeworfen zu werden. Genauso macht es das Rotwild. Wir beobachten mehrere Rudel, die sich dort stetig fortbewegen. Nach einem leckeren Mittagessen im Schutz eines riesigen Felsens, ist ein sonniger und windgeschützter Hang unser nächstes Ziel. Eine erfolgreiche Strategie, denn hier können wir unseren ersten Jura-Hirschen erlegen. Nachdem das Wild aufgebrochen ist, wird es hinab zum Ufer gebracht, wo wir es am Ende der Jagd abholen werden. Craig ist hin- und hergerissen, ob er sofort zum Boot zurückkehren oder die Jagd fortsetzen soll, denn die Jagd auf einer Insel, die nur vom Wasser aus zugänglich ist, erfordert, dass man die Gezeiten genau im Auge behält. Wir sind noch acht Kilometer weit vom Boot entfernt und es ist besser, sich mit der Rückkehr zu beeilen. Doch nach kaum einem Kilometer erblicken wir einen jungen, lahmenden Hirsch. Er ist wahrscheinlich durch einen Kampf verletzt und Craig bittet uns, ihn von seinem Leiden zu erlösen. Wir legen die Rucksäcke ab und eilen den Hang hinauf, um eine gute Schussposition zu finden.
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Als wir kurzatmig und mit klopfendem Herzen auf dem Kamm ankommen, montieren wir ein Zweibein an die Waffe. Der Hirsch ist 185 Meter entfernt, er verharrt kurz, dreht sich um und die .308 Win zerschneidet die Luft. Wie aus dem Nichts tauchen zwei Kolkraben auf, die sich über das vermeintliche Festmahl freuen, das ihnen der von Windböen getragene Kugelschlag verspricht. Sie könnten sich ganz ohne Vergiftungsrisiko daran laben. Craig verwendet schon lange keine Bleimunition mehr, sogar weitaus länger als gesetzlich vorgeschrieben.
Als wir zum Boot zurückkehren, stellen wir fest, dass es zu spät ist. Das Wasser ist gestiegen und Craig bleibt nichts anderes übrig, als sich in das eiskalte Wasser zu stürzen, um die Anlegestelle des Bootes zu erreichen. Das Bad dauert nicht länger als eine Minute, aber es reicht aus, um seine Gliedmaßen einzufrieren und ihn fast daran zu hindern, sich an Bord zu ziehen. Zurück am Ufer zieht er sich schnell seine Wollkleidung an und erklärt uns mit einem breiten Lächeln, dass dieses Material die beste Lebensversicherung der Welt sei. Das war’s. Kurz darauf liegen unsere beiden Hirsche auf dem Boden des Kanus; dann erreichen wir unser Boot und machen uns auf den Weg zu unserem Ausgangspunkt, während der Wind vom Nordatlantik herüberweht. In Schottland ist es üblich, alle vier Jahreszeiten im Verlauf eines einzigen Tages zu erleben, aber an unserem zweiten Jagdtag soll sich dieses Sprichwort nicht bewahrheiten. Heute werden wir an der Südspitze der Insel unsere Hosen und Handflächen pirschen und wieder einmal durch Torf, Granitfelsen und Heidekraut kriechen. Auf der Südseite der Insel werden wir unter einem azurblauen Himmel und bei fast warmem Sonnenschein von William geführt, der schon lange genug als Head Gamekeeper auf dem Anwesen tätig ist, um sich nun endlich zur Ruhe zu setzen. Dies wird seine letzte Führung sein, und obwohl in Schottland eigentlich nie die Trophäe im Fokus des Stalkers steht, schlägt William vor, einen starken, alten Rothirsch, einen majestätischen 14-Ender anzusprechen. Wir nehmen dieses Privileg demütig an und sind gerührt von dem Vorschlag eines Mannes, der vor 70 Jahren auf der Insel geboren wurde, sie nie verlassen hat und sie besser als jeder andere kennt. Ihm ist jeder Winkel der Insel vertraut, wo er Generationen von Rothirschen hat aufwachsen und sterben sehen; wo er dazu beigetragen hat, die Gesten und Fertigkeiten eines Berufes zu bewahren, der die wichtigste wirtschaftliche Aktivität auf diesem 43 km langen und 7 km breiten Stück Land darstellt, aber für diesen Mann ist es nichts anderes als sein ganzes Leben. Ein Leben, das der Jagd, dem Fischfang und der Pflege dieser feindlichen Natur gewidmet ist, in der Hunderte von sensiblen Arten leben. Ein Leben, das es verdient, dass unser 14-Ender ihm gewidmet wird.