Noch zeichnen die Berge ihre Umrisse nur schemenhaft ins nachtblaue Firmament. Doch bald hebt sich die gezackte Silhouette deutlich vom Horizont ab, und der Himmel färbt sich in ein kräftiges Orange. Eines nach dem anderen erlöschen die letzten Lichtpunkte am gegenüberliegenden Hang. Ein kleines Bergdörfchen kommt in Sicht und verschwindet gleich wieder hinter der nächsten Kurve. Nach einer letzten Steigung in einer engen Kehre haben wir den Scheitelpunkt des Bergpasses erreicht.

Jagdführer Cédric lenkt das Auto durch eine kleine Ortschaft und parkt den Geländewagen unter einer großen Robinie. Hier scheint die Zeit stillzustehen. Nicht mehr als ein Dutzend Häuser zählt das Dörfchen, altertümlich gebaut aus Sand- und Bruchstein. Eine kleine Kapelle markiert das Zentrum der Siedlung. Eine ältere Frau kehrt bereits in früher Morgenstunde den kleinen Hof vor ihrem Haus und nickt uns freundlich zu, während sich eine schwarze Katze auf dem Fenstersims rekelt.

Jetzt erglänzen die ersten Sonnenstrahlen am Horizont und tauchen das Herbstlaub der Robinie in ein feuriges Gelb. Einige der verfärbten Blätter beginnen bereits leise zu Boden zu rieseln. Es ist eine friedliche Landschaft, die Sonne wärmt unsere noch morgensteifen Glieder, in der Luft liegt ein süß-würziger Duft nach trockenen Kräutern. Cédric schlägt ein langsames Tempo an. Gemächlich gehen wir über die Wiesen in Richtung des Plateaurandes. Wir sind vielleicht 20 Minuten gelaufen, als Cédric das Tempo noch einmal verlangsamt und in die gebückte Pirschhaltung übergeht. Ich mache es ihm nach, und langsam, ganz langsam nähern wir uns der Abrisskante, die die Ebene von den schroffen Felsen trennt. Cédric setzt sich hin und lugt über den Rand auf die steilen Felsen hinab.

Jetzt erst ahne ich, dass die Jagd hier vielleicht doch nicht ganz so „einfach“ wird: Steile, zerklüftete Felsen fallen knapp 1 000 Meter nahezu senkrecht nach unten ab, mal mit halbhohem Gebüsch und Gräsern bewachsen, mal kahl und schroff. Von den Eismassen der letzten Kaltzeit von tiefen Schächten und Klüften gekerbt, bietet das Gelände ein urwüchsiges, fast wildes Szenario. Hier muss sich das Gamswild angesichts der vielfältigen Verstecke und Rückzugsorte sehr wohlfühlen.

Wir glasen die Fläche vor uns aufmerksam ab, doch es kommt kein Wild in Anblick. Eine wirklich grandiose Landschaft breitet sich vor uns aus, wenn auch vielleicht nicht ganz so dramatisch wie die riesigen Felsmassive unserer Alpen. Die Berge der Pyrenäen sind nicht allzu hoch, auch ist jeder einzelne für sich betrachtet vielleicht nicht so markant, doch ihre Verlassenheit und Ursprünglichkeit lassen mir den Atem stocken.

Lang gestreckte Taleinschnitte, breite Senken und Hochebenen wechseln mit tief eingeschnittenen Schächten und Graten ab. Keine Straße, kein Dorf weit und breit. Manche Täler sind, so höre ich von Cédric, noch völlig unberührt und unerschlossen.

Schließlich wenden wir uns von dem herrlichen Panorama ab, ziehen ein paar Hundert Meter weiter und pirschen erneut in Richtung der Abrisskante. Cédric bedeutet mir, ihm ganz langsam zu folgen und mit dem Kopf möglichst weit unten zu bleiben. Und jetzt haben wir auch Anblick. Eine Gams steht auf 300 Meter Höhe auf einer Felskante und äugt hinab. Wäre ich Bildhauer und wollte eine Statue von einer Gams platzieren, hätte ich sie genau dorthin gestellt. Stolz und anmutig zugleich wacht sie am Rande des Abgrunds, äugt mal hierhin, mal dorthin und verschwindet dann mit zwei eleganten Sprüngen auf Nimmerwiedersehen.

Cédric glast jetzt den Abhang vor uns ab und macht mich auf eine Gams mit ihrem Kitz aufmerksam. Knapp 400 Meter unter uns äsen die beiden in einem breiten Geröllfeld von dem kargen Grün. Kaum auszumachen ist das Paar, das sich dank seiner Färbung hervorragend an die Umgebung anpasst. Eigentlich ist das Wild nur zu entdecken, wenn sie sich gerade bewegen und von Busch zu Busch ziehen. Doch das geschulte Auge von Cédric hat sie ohne Fernglas erspäht. Wir warten ein wenig, vielleicht folgt ihnen ja noch ein Gamsbock. Jetzt in der Brunft wäre das mehr als wahrscheinlich, doch diesmal haben wir kein Glück.

Langsam steigt die Sonne höher, der Geruch nach wildem Thymian und Lavendel wird intensiver. Auch über mangelnden Wildanblick können wir uns nicht beklagen. Immer wieder entdecken wir kleinere Gruppen von Gamswild. Doch was die Jagd hier so spannend und aufregend macht, ist die große Herausforderung, sich dem Wild auf Schussentfernung zu nähern.

Cédric hatte sich morgens nach meiner maximalen Schussdistanz erkundigt. Als ich ihm „so um die 200 Meter“ angab, sprach sein Blick Bände. Jetzt im weiten Gelände weiß ich auch, warum. Meinen Vorsatz, auf maximal 200 Meter zu schießen, möchte ich dennoch nicht aufgeben. Gebirge hin oder her, für mich ist diese Maximaldistanz eine Frage der Waidgerechtigkeit. Und so müssen wir halt noch ein wenig suchen, bis wir auf einen Gamsbock treffen, der sich auf Schussentfernung anpirschen lässt.

Aus weiter Entfernung haben wir ein Rudel entdeckt, das langsam hinter den nächsten Grat gezogen ist. Jetzt müssen wir wieder zum Plateaurand zurückkehren, um erkennen zu können, wohin sich das Rudel gewendet hat. Es bleibt jedoch außer Sicht. Es gilt also, die so komfortabel zu bepirschende Hochebene aufzugeben. Um zu dem Grat zu gelangen, hinter dem das Gamswild verschwunden ist, kraxeln wir einen Abhang hinunter. Sicherheitshalber entlade ich die Waffe komplett und stecke das Magazin in die Tasche.

Jetzt weiß ich auch, warum Cédric zumindest in Begleitung von Gästen ungern die ebene Fläche verlässt. Loses Geröll erschwert die wacklige Kletterpartie, und ich bin froh, als wir die Stelle erreichen, von der wir über den Grat blicken können. Doch das Wild bleibt verschwunden. Am Rand des Bergkamms steigen wir den Hang wieder nach oben, die helfende Hand von Cédric nehme ich an manch kniffligeren Stelle gerne an. Ein wenig außer Puste gekommen, legen wir oben am Hochplateau eine kleine Rast ein.

„Jetzt um die Mittagszeit“, erklärt mir Cédric in seiner bewährten Kombination aus Französisch, gebrochenem Englisch und ein paar anschaulichen Gesten (er hält dabei die Handflächen aneinander und neigt zugleich den Kopf leicht zur Seite), „wird es schwieriger, etwas zu bekommen.“ Also machen wir uns erneut auf, marschieren an der Kante der Hochebene entlang, glasen unermüdlich die Flächen vor uns ab und werden leider immer unvorsichtiger, wenn wir uns dem Rand nähern. Cédric positioniert sich eben wieder unmittelbar an der Kante, als ich an seine Seite trete. Eine ruckartige Handbewegung von ihm lässt mich instinktiv innehalten. Sofort gehen wir beide auf die Knie und machen uns klein. Tief unter uns stehen auf vielleicht 350 Meter drei Stück Gamswild. Ein weibliches Stück mit seinem Kitz und ein reifer Gamsbock. Alle drei befinden sich im Buschwerk am Rande einer tief ins Berginnere hineingeschnittenen Kluft. Macht das Wild zwei, drei Schritte, ist es wieder zwischen den Büschen verschwunden, doch dazwischen ist rohes Felsgestein, auf dem man es gut erkennen kann.

Der Bock wäre passend. Ans Wild heranzukommen ist jedoch nicht ganz einfach. Vor uns geht es ein kleines Bergkar steil hinab, links von uns fällt der Grat der Kluft tief ins Tal ab, dahinter erstrecken sich senkrechte Felsformationen. Cédric überlegt kurz und handelt schnell. Wir müssen das kleine Kar hinunterpirschen und uns etwas tiefer unten für den Schuss einrichten. Einfacher gesagt als getan, denn nun beginnen die vielleicht anstrengendsten 100 Meter meines Lebens. In gebückter Haltung und mit schmerzhaft gebeugten Knien schleichen wir in Serpentinen den Hang hinunter. Bereits nach einigen Metern beginnen meine an sich gut trainierten Beinmuskeln zu brennen.

Gerade als ich fest davon überzeugt bin, keinen einzigen Zentimeter mehr in dieser Haltung zurücklegen zu können, weist mir Cédric eine Stelle auf dem Grat. Dort soll ich mich für den Schuss einrichten. Ich nehme den Rucksack ab, lege ihn auf den kleinen Felsvorsprung vor mir und lasse mich langsam auf dem unbequemen Steinbrocken nieder. Ein Blick nach unten zeigt mir, die Gämsen sind noch da.

Dort steht das Kitz auf dem Grat der Kluft und äugt in unsere Richtung. Das Muttertier befindet sich halb verdeckt von ein paar Büschen zwei Meter dahinter oder besser gesagt darunter. Ein Schuss steil hinab also. Mein Entfernungsmesser gibt gute 170 Meter an. „Müsste machbar sein“, denke ich mir und richte meine Waffe aus. Nicht gerade das gemütlichste Plätzchen: Unmittelbar neben meinem kleinen Felsvorsprung geht es senkrecht nach unten, rechts von mir das steile Kar und vor mir der steil abfallende Felsgrat.

Ich versuche, eine halbwegs bequeme Schussposition zu finden. Cédric wird unruhig. „Wait, wait!“, raunt er mir zu. Klar, das Kitz will ich auch nicht schießen, aber wo ist der Bock? Jetzt springt das Muttertier zwei Schritte weiter und das Kitz hinterher, beide sind sogleich hinter Felsen und Büschen verschwunden. Ein weiteres Stück zieht von links genau an die Stelle, wo vorher das Kitz stand. Cédric spricht noch einmal das Stück an, und auch ich blicke erneut durchs Glas. Das ist der Bock! „Shoot“, höre ich nur noch leise, Sekunden später bannt meine Kugel das Stück an den Platz.

Ich habe schon Gamsjagden erlebt, auf denen das Wild nach dem Schuss Hunderte Meter weit ins Tal rollte, doch heute ist mir das Glück hold. Der Gamsbock ist genau dort zusammengebrochen, wo ich ihn geschossen habe. Wir warten noch ein wenig und machen uns dann an den Abstieg, diesmal erfreulicherweise nicht mehr in gebückter Haltung.

Am Stück angelangt, gratuliert mir Cédric herzlich. Auch ich bin glücklich über mein Waidmannsheil und den guten Ausgang der Pirsch. Cédric versorgt den Bock fachgerecht und verstaut ihn in seinem Rucksack. Zum Glück ist der Rückweg nicht allzu weit, wir müssen knapp 300 Meter den Berg hoch und wieder quer über das Hochplateau zurück zum Auto. Zurück an der Jagdhütte macht sich Cédric sogleich daran, die Gams zu zerwirken. Währenddessen darf ich in stiller Rückschau den Tag beschließen und bei einem prächtigen Sonnenuntergang Abschied von den Pyrenäen nehmen.

Produktinformationen

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert