Wenn es eine Jagdart gibt, die einen ganz besonderen Reiz auf mich ausübt, dann ist es die Gamsjagd im Gebirge. Selten werden das jagdliche Können und die eigenen körperlichen Fähigkeiten so sehr herausgefordert wie bei der Jagd auf diese faszinierende Wildart. Dabei kommt es nicht nur auf die persönliche Fitness und Kondition an, sondern auch auf Durchhaltevermögen, Trittsicherheit und je nach Terrain natürlich auch ein gewisses Maß an Schwindelfreiheit. Neben der persönlichen Herausforderung sind es aber vor allem die wunderschöne Umgebung und die beeindruckende Landschaft der Berge, die einen mühseligen Aufstieg schnell vergessen machen und dieses Jagderlebnis zu etwas ganz Besonderem machen.
Ich folgte einer Jagdeinladung in die französischen Seealpen nördlich der Côte d’Azur. Rasmus, mein ortsansässiger Jagdführer, holte mich in Nizza vom Flughafen ab und fuhr mit mir direkt ins Jagdgebiet, welches am Fuße des knapp 2 000 m hohen Berges Tête de Rigaud liegt. Müde von der Anreise verabredeten uns für den morgigen Tag für 4.30 Uhr und besprachen noch kurz das weitere Vorgehen. Ich schaffte es gerade noch, meine Sachen zurechtzulegen und fiel wenig später in einen tiefen Schlaf.
Der Wecker riss mich aus meinen Träumen. Es war 4 Uhr, und draußen war es stockdunkel. Das Revier war groß, und um zum Ausgangspunkt unserer heutigen Pirsch zu gelangen, mussten wir noch knapp eine Stunde mit dem Auto fahren. Der Morgen graute bereits am Horizont, und allmählich wich das Einheitsschwarz um mich herum einem dunklen Grau. Erste Konturen wurden sichtbar. Die Berge und Hügel zeichneten sich am Horizont ab, und Richtung Osten zeigte sich ein erster schmaler blassoranger Streifen. Es würde ein schöner Tag werden …
Kurze Zeit später parkte Rasmus den Pick-up auf einem Hochplateau am Wegesrand. Vor uns lag der Berg Tête de Rigaud, der mit seiner charakteristischen Form ein wenig an einen Vulkan erinnert. Das Hochplateau bot einen fantastischen Blick auf die angrenzenden Berge und Täler, und auch wenn die Sonne noch nicht ganz aufgegangen war, konnte ich bereits das atemberaubende Panorama genießen.
„Wir sollten aufbrechen“, flüsterte Rasmus mir leise zu und wies auf den Berg, der vor uns lag. Kurz erläuterte er mir das weitere Vorgehen. Wir würden jetzt erst einmal etwas weiter nach oben steigen und den Berg umrunden. Anschließend würden wir von oben immer wieder die Täler unter uns einsehen, vielleicht träfen wir dort auf Gamswild. Ich machte meine Waffe fertig und verstaute alles Nötige im Rucksack. Wir würden den ganzen Tag unterwegs sein, und darauf wollte ich vorbereitet sein.
Es war noch kühl an diesem Morgen, und ich war froh, mich ein wenig bewegen zu können. Rasmus ging voran und wählte eine bequeme Route den Berg hinauf. Den ganzen Vormittag pirschten wir durch felsiges Gelände. Der rote Schiefer war porös, und jeder Schritt musste mit Bedacht gewählt werden. Konzentration und Trittsicherheit waren jetzt gefragt, und mittlerweile stand die Sonne so hoch am Himmel, dass die wärmeren Temperaturen mir den Schweiß auf die Stirn trieben. Doch ich genoss die Pirsch in vollen Zügen. Die Landschaft war so abwechslungsreich und wunderschön, dass ich immer mal wieder innehalten musste, um diese so richtig in mir aufnehmen zu können.
Doch wir mussten uns beeilen, denn Rasmus wollte einen Teil des Reviers erreichen, in dem sich im Laufe der Zeit die roten Schieferterrassen und das zerklüftete Gestein zu tief ausgeformten Vorsprüngen und Ausbuchtungen, die weit in die Schlucht ragen, gebildet haben. Da der rote Schiefer poröser ist als das ihn umschließende Kalkgestein, sind durch Wind und Wetter die Schieferschichten ausgewaschen und formen bizarr anmutende Strukturen im Landschaftsbild. Diese Schieferterrassen sind mit Buchsbaum bewachsen, der hier so hoch und dicht wächst, dass er uns zwar genügend Deckung für die Pirsch gab, es für uns jedoch ungleich schwerer machte, hier Wild zu entdecken. Und hatten wir dann endlich Wild ausgemacht, war es kurze Zeit später wieder verschwunden.
Weiter unten erblickten wir ein paar Gemsen und wenn wir vorsichtig genug wären, könnten wir es schaffen, auf Schussentfernung heranzukommen. Wir beeilten uns, ließen Jacke und weiteres überflüssiges Gepäck zurück und pirschten uns vorsichtig näher. Mein Herz schlug schneller, und meine Beine wurden weich. Geduckt liefen wir hinter einem Felsvorsprung entlang, bis wir uns schließlich auf allen vieren der Felskante näherten. Der lose rote Schiefer bohrte sich in meine Knie und Handflächen. Wir machten uns noch kleiner, legten uns flach auf den Boden und robbten die letzten Zentimeter vor. Vorsichtig lugten wir über den Rand. Unter uns erstreckte sich ein kleines Plateau mit losem Bewuchs aus Büschen und Bäumen. Es war etwas größer als die sonst üblichen Felsvorsprünge und lag nur ca. 150 m unter uns. Eine ideale Entfernung! Die Vegetation war hier lichter, und jetzt sah ich auch das Gamswild. Eine Geiß mit zwei Jährlingen zog direkt unter uns über die Fläche in Richtung Felskante. Wir hatten uns vorher darauf geeinigt, dass wir das jagen würden, was passend und in der Situation das Richtige wäre. Auf eine Trophäe kam es mir nicht an, sodass wir uns schnell darauf verständigten, dass die Wahl auf einen der beiden Jährlinge fallen sollte. Ich versuchte, eine halbwegs bequeme Schussposition zu finden, was gar nicht so einfach war. Der Fels war hart und scharfkantig, und die Waffe baute auf dem Rucksack zu wenig auf. Ich bekam das Stück nicht ins Glas und musste meine Position verändern. Wertvolle Zeit, die mir verloren ging. Die Geiß wurde unruhig, zog weiter hinter das Buschwerk. Ich musste irgendetwas finden, um die Waffe höher auszurichten. Der Rucksack reichte nicht aus, also musste das Leica Fernglas herhalten. Jetzt passte es. Eines der beiden jungen Stücke zog weiter, kam in mein Schussfeld und ich ließ die Kugel fliegen. Die Jährlingsgeiß überschlug sich im Schuss und verschwand im dichten Buschwerk.
Wir warteten eine kleine Weile, während ich mich mühsam aus meiner unbequemen Position heraus aufrichtete. Der Anschuss war schnell gefunden, Schweiß lag auf dem Boden und führte ins Gebüsch, wo auch nach nur wenigen Metern die Gams lag. Erleichtert umarmte ich Rasmus, und wir versorgten das Wild. Die Sonne stand schon hoch am Himmel, und wir mussten uns beeilen, das Stück aufzubrechen und in den Schatten zu bringen. Ein kleiner Wettstreit entbrannte schließlich noch zwischen uns, wer jetzt das Wild tragen solle. Schließlich gewann der Gentleman, und wir machten uns auf den Heimweg.