Ernst Leitz ging als visionärer Unternehmer und mutiger Nazigegner in die deutsche Industriegeschichte ein. Doch der Wegbereiter der legendären Leica war auch leidenschaftlicher Jäger und erprobte die optischen Geräte im eigenen Revier.
Das Jahr, in dem der hessische Unternehmer Ernst Leitz Junior die folgenreichste Entscheidung seiner Laufbahn trifft, ist kein leichtes für Deutschland. Die Weimarer Republik lässt sich kaum mehr regieren, Kommunisten und Nationalsozialisten lähmen die junge Demokratie, auch nach zwei Reichstagswahlen kommen keine klaren Mehrheiten zustande. Es herrschen Massenarbeitslosigkeit und Verarmung ganzer Gesellschaftsschichten, das wirtschaftliche Chaos der Hyperinflation wirkt auch nach Einführung der neuen Reichsmark noch nach.
Aber 1924 ist auch ein Jahr großer Technikbegeisterung: Der Rundfunk tritt seinen Siegeszug durch die deutschen Wohnzimmer an, der Elektroingenieur Ernst Alexanderson schickt das erste Fax über den Atlantik und am bayerischen Walchensee geht das größte Wasserspeicherkraftwerk Europas ans Netz. Zwischen Krise und Aufbruchsstimmung entschließt sich der damals 53-jährige Leiter der Optischen Werke Leitz gegen den Rat vieler enger Mitarbeiter zu einem epochalen Großprojekt: Die Leica, die erste Kompaktkamera der Welt, wird in Serie gehen.
„Ich entscheide hiermit: Es wird riskiert“, soll der Wagemutige bei einer Besprechung im Wetzlaer Firmensitz gesagt haben. Und hinzugefügt haben: „Hier handelt es sich um eine Möglichkeit, unseren Arbeitern in den Jahren der Depression Arbeit zu beschaffen und sie damit durch die kommende schwere Zeit zu bringen.“ Der visionäre Unternehmer mit sozialer Verantwortung hielt allerdings mit der von seinem genialen Konstrukteur Oskar Barnack erfundenen Kleinbildkamera auch einen echten Trumpf in den Händen.
Die kleine, leichte Leica (der Produktname ist ein Kofferwort aus Leitz und Camera) ermöglichte eine bisher völlig unbekannte Flexibilität. Der Rollfilm und rasch austauschbare Wechselobjektive erlaubten schnelle Bilderfolgen; ihre einfache Handhabung öffnete auch Amateuren den Zugang zur Fotographie. Die Leica legte den Grundstein für den modernen Fotojournalismus und prägte über ein dreiviertel Jahrhundert die Entwicklung in der fotografischen und fotochemischen Industrie. Mit der revolutionären Errungenschaft aus dem Haus Leitz etablierte sich eine neue Bild-Ästhetik: Als heimliche Beobachterin fing die kleine Leica unbemerkt den Augenblick ein. Die dynamische Schnappschuss-Fotographie war geboren; steife, in Szene gesetzte Atelier-Aufnahmen hatten ausgedient.
Die Vermarktung und Herstellung jedoch ließ Schwierigkeiten erwarten: Die optischen Werke von Leitz hatten sich bisher ihr Renommee und ihren Umsatz mit Mikroskopen und Ferngläsern verdient, für den neuen Lichtbildautomaten fehlten Produktionsmittel und Vertriebswege. Massive Investitionen waren erforderlich. Ein Scheitern des Projektes, das wusste Ernst Leitz, hätte die gesamte Firma und ihren seriösen Ruf ruinieren können.
Schon 1925 wurde der Wunderapparat auf der Leipziger Frühjahrsmesse der Weltöffentlichkeit präsentiert. Und die war sofort einhellig begeistert. Die Rechnung des Ernst Leitz ging auf: Die Leica erschloss den Wetzlaer Werken auf lange Jahrzehnte neue Absatzmärkte und ermöglichte den Aufbau des später bedeutendsten Geschäftszweiges der Firma Leitz.
Die Kamera aus eigenem Hause dokumentierte auch noch eine andere Leidenschaft des Foto-Pioniers. Denn Ernst Leitz war nicht nur Vollblut-Unternehmer, sondern auch passionierter Jäger. 1920 pachtete Ernst Leitz das prächtige Hochwildrevier Schwobach im Vorderen Taunus, rund 20 Kilometer von Wetzlar entfernt. Bilder aus den zwanziger und dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts zeigen den entspannten Unternehmer mit Stulpen und Tirolerhut, zwischen Jagdhunden und Hirschtrophäen. „Es war sein persönlicher Rückzugsort“, erinnert sich später sein Enkel Knut Kühn-Leitz an das großväterliche Revier. „Ernst verbrachte jedes freie Wochenende in seinem Jagdhaus. Während der Hirschbrunft von Mitte September bis Anfang Oktober blieb er sogar bis zu zwei Wochen im Revier.“
Wie tief ihn das urtümliche Brunft-Ritual der röhrenden Hirsche beeindruckte, schildert der Waidmann Leitz in einem Brief an zwei Jagdfreunde im Oktober 1939: „Es war auf dem Kraftsolmser Feld unterdessen ein mächtiges Konzert im Gange. Es stand da ein anscheinend gewaltiger Platzhirsch mit mindestens neun Stück Kahlwild. Der Platzhirsch hatte dauernd seine Last, die Beihirsche auf Respekt zu halten und zu stäuben, ohne dabei seine Pflicht zu vergessen. Obgleich noch Vollmond war, hatte sich allmählich immer mehr Dunst entwickelt. Ich machte dauernd Versuche, mit dem Zielfernrohr zurecht zu kommen.
Aber es wurde immer schwieriger, umso mehr, als der Hochsitz keine Auflage zuließ. Ich wollte unter allen Umständen den Versuch machen, einen zu schießen, musste das aber mit meinem Gewehr freihändig machen. Wie wir am nächsten Tag feststellten, war die Entfernung ungefähr 250 Meter. Ich schoss und Bender (Leitz’ Hegemeister, Anm. der Red.) hatte den Eindruck, dass der eine Hirsch abgewankt sei. Er wollte den Aufschlag deutlich gehört haben. Am nächsten Tag haben wir alles abgesucht. Aber es war nichts zu finden.“
Solche Erfahrungen mit der Zieloptik veranlassen den Erfinder Leitz zu immer neuen Verbesserungen. Längst ist das Schwobacher Jagdrevier zu einem optischen Labor unter freiem Himmel geworden. Jagdgäste unterziehen die Leitz’schen Produkte gründlichen Praxis-Tests. Optimierungsvorschläge werden sogleich im Werk umgesetzt. „Zu den technischen Fortschritten dieser Zeit“, weiß der Enkel Kühn-Leitz, „gehörten beispielsweise der Schrägeinblick beim Spektiv, optische Entfernungsmesser und natürlich Zielfernrohre, die ausschließlich für die Jagd konstruiert wurden.“
Aber Ernst Leitz verstand das Waidwerk auch als wunderbare Gelegenheit alte Kameradschaften zu pflegen oder neue Freundschaften zu schließen. Seinen ehemaligen Oberförster lädt Leitz samt großer Familie zu einem Urlaub in sein privates Jagdhaus ein. Dort darf der ganze Clan faulenzen, feiern und das Badehaus benutzen. Leider heizen die Feriengäste den Badeofen ein wenig zu kräftig ein oder lassen beim Nachschüren nicht die nötige Vorsicht walten. Jedenfalls fällt ein Stück Glut heraus und das ganze hölzerne Blockhaus geht in Flammen auf. Zu Schaden kommt glücklicherweise niemand.
Der großzügige Leitz nimmt’s gelassen und lässt das Anwesen kurzerhand wieder aufbauen. Diesmal in Stein, denn die Nazis verbieten Holz als Baustoff, es wird für die Rüstung benötigt. Das fröhliche Richtfest findet in einer Kneipe des nächsten Örtchens statt und Zimmermeister, Maurermeister und Architekt rühmen den spendablen und sympathischen Bauherrn: Humorig wehrt Leitz die überschwänglichen Dankesworte ab: „Ist ja alles schön und gut, aber bedanken müsst Ihr euch bei Oberförster Ehlers. Wäre das alte Haus nicht abgebrannt, säßen wir heute nicht hier.“
Doch trotz solcher vergnügten Momente und innigem Gemeinschaftsgefühls ballen sich über dem Leitz’schen Imperium dunkle Wolken zusammen. Denn den Nazis, die gerade ihren barbarischen Vernichtungskrieg beginnen und mit ihrem Rassenhass die halbe Welt verseuchen, ist der eingefleischte Demokrat Ernst Leitz von Anfang an ein Dorn im Auge.
Als Mitglied der linksliberalen DDP hatte der Großunternehmer mehrmals für den Reichstag der Weimarer Republik kandidiert. Außerdem engagierte sich Leitz für die Initiative „Reichsbanner-Schwarz-Rot-Gold“, die die instabile Demokratie vor radikalen Kräften schützen sollte. Leitz stellte der Vereinigung seine Firmen-LKW für den Transport zu Reichstreffen zur Verfügung und die rasch an Einfluss gewinnenden Nazis titulierte er öffentlich „braune Affen.“ Erst nach dem Krieg wird bekannt, dass die Nazis immer wieder planten, den einflussreichen Industriellen auszuschalten und zu enteignen. Schließlich verfügten seine optischen Wetzlaer Werke über kriegswichtiges Material und Know-how.
Lebensgefährlich wird es für Ernst Leitz und seine Angehörigen, als sich der Unternehmer schützend vor jüdische Mitarbeiter stellt und ihnen Anstellungen bei der New Yorker Niederlassung der Firma verschafft. Bereits 1938 verhaften die Nazis den Verkaufsleiter der Leitz-Werke Alfred Türk, weil er jüdische Emigranten mit Empfehlungsschreiben für die USA ausstattet. Ein paar Jahre später holt die Gestapo Ernst Leitz’ Tochter Elsie ab. Sie leistete Fluchthilfe für viele Wetzlarer Juden und bewahrte die Verfolgten vor der Deportation in die Vernichtungslager. Nur knapp entgeht sie dem KZ, ihr Vater lässt alle seine Beziehungen spielen, um das Schlimmste zu verhindern.
Posthum wird der 1957 verstorbene Leitz mit dem „Courage to Care Award“ ausgezeichnet. Ernst Leitz hat über 60 Menschen jüdischen Glaubens das Leben gerettet.
Autor
Günther Dachs
Dieser Artikel erschien erstmals im Januar 2013 in der Zeitschrift HALALI.