Im äußersten Norden Spaniens erhebt sich das Kantabrische Gebirge, eine Gebirgskette, die eines der unberührtesten Ökosysteme Europas beheimatet. Im Herzen dieser ungezähmten Natur lebt die kleinste Unterart des Gamswilds: die kantabrische Gams.
Es ist bereits Ende November und in zwei Tagen endet die Jagdzeit für Gamswild in Spanien. Ganz früh morgens, als wir gerade einen der zahlreichen Picos de Europa, der Gipfel Europas, überqueren, verwandeln sich die Regentropfen in Schneeflocken, die den 2.648 Meter hohen Torrede Cerredo in kurzer Zeit bedecken. Dann klart endlich der Himmel auf und wir erleben einen Sonnenaufgang, dessen Leuchtkraft von der klaren Luft potenziert wird.
Wir treffen auf Manuel, unseren Jagdführer, und brechen auf zu einer zweitägigen Jagd, die Einheimische als „rebeco“ bezeichnen. Ein Begriff, dessen Ursprung auf das Keltische zurückgeht und so viel bedeutet wie „in den Steinen wohnen“. Obwohl wir bereits am ersten Tag acht Stunden lang auf den Beinen waren, fand sich bislang keine einzige Gamswildfährte. Nun bricht der zweite Tag in dieser atemberaubenden Landschaft an. Wir haben gerade einige hundert Meter zurückgelegt als Manuel – durch das Fernglas blickend – verharrt. Er murmelt „cervo“ und das Fernglas ersetzt uns den Übersetzer, denn es eröffnet uns den Blick auf ein Rudel Rotwild in etwa einem Kilometer Entfernung. Inmitten eines Dutzends Kahlwilds erblicken wir einen Hirsch mit imposantem Geweih, der uns von seinem Beobachtungsposten aus mustert. Er hat uns entdeckt. Ein solches Misstrauen lässt uns auf einen hohen Jagddruck schließen, was nicht verwundert, wenn man weiß, dass Asturien vermutlich die höchste Wolf- und Bärendichte Europas hat. Das Rotwild verschwindet hinter dem Bergkamm und wir setzen unseren Aufstieg fort.
Nach fünf Stunden bewältigen wir die letzte Steigung und gelangen auf ein Plateau von dem aus sich uns ein grandioser Ausblick offenbart. Aber bislang: kein Gamswild. Wir erholen uns ein wenig während Manuel sein Spektiv aus dem Rucksack holt. Ein eisiger Wind bläst uns Schneeflocken ins Gesicht als wir auf der anderen Seite des Gebirges unzählige Wechsel entdecken. Und umgibt eine solche Weite, dass es noch rund eine Stunde dauert bis wir einen braunen Fleck in einem rund 100 Hektar großen, steinigen Bereich erblicken. Manuel ist überzeugt, dass es sich um eine Gams handelt, aber dennoch müssen wir uns weiter annähern, um sicher zu sein. Dann schneidet uns eine Felswand den Weg ab. Das Tier ist noch circa 300 Meter weit entfernt. Die Waffe ruht auf dem Zweibein. Der Laser-Entfernungsmesser arbeitet perfekt. Aber die Gams bleibt liegen. Es handelt sich um ein männliches Stück, circa sechs Jahre alt wie wir anhand des Geweihs – das nicht die Länge der Lauscher übertrifft – erahnen können. Als sich die Gams endlich erhebt, sehen wir, dass sie so groß wie ein Rehbock ist! Das Zielfernrohr richtet sich oberhalb der Rückenlinie aus, das Tier steht breit, doch in dem Moment, in dem der Finger sanft den Auslöser betätigt, katapultiert ein heftiger Windstoß die Kugel hinter die Gams.
Die Gams bewegt sich auf den unteren Teil des Abhangs zu, springt von Felsen zu Felsen, bewältigt Sprünge, bei denen wir Zweibeiner uns alle Knochen brechen würden, um schließlich stehen zu bleiben und die von uns ausgehende Gefahr zu orten. Manuel hat das Ganze mit dem Laser-Entfernungsmesser verfolgt und schon ist wieder eine Kugel im Lauf. Dieses Mal erreicht sie ihr Ziel. Der leblose Körper stürzt von den Felsen herab und wir brauchen zwei Stunden, um ihn zu bergen. Dann erst stellen wir fest, dass der Körper der kantabrischen Gams viel weniger Fülle aufweist als der seiner Verwandten in den Alpen und den Pyrenäen. In unserem Fall ist das ein Vorteil, denn es liegen noch einige Stunden Weg vor uns, bevor wir wieder am Ausgangspunkt eintreffen… der liegt auf der anderen Seite der Gipfel Europas!